Wir sitzen in einem Café an einem der schönen Plätze in der Stadt. In dem Moment, als wir zahlen wollen, sehe ich von weitem einen jungen Mann auf uns zukommen. Und ich traue fast meinen Augen nicht. Es ist Tommy*. Er strahlt über das ganze Gesicht. Seine Haare, die wir noch lang und zu einem Pferdeschwanz gebunden in Erinnerung haben, ganz kurz. Jahre haben wir ihn nicht mehr gesehen.
Mit Hoffnung aus der Klinik
Wir bitten ihn an unseren Tisch und bestellen noch einmal Getränke. Tommy war vor Jahren bei uns als Teilnehmer eines MBSR-Kurses**. Und war mit uns zum Pilgern in Italien auf dem Franziskusweg. Wir haben sehr lange nichts mehr von ihm gehört. Sofort wird spürbar: Er hat eine Geschichte zu erzählen. Ob wir sie wissen wollen? Natürlich. Wir sind auf alles gefasst… Ein halbes Jahr geschlossene Psychiatrie. Seit wenigen Tagen in der Tagesklinik. Just heute ist er hier in der Stadt, um sein Zimmer auszuräumen. Und freut sich riesig, uns zu treffen. Er erzählt seine durchaus „schwere“ Geschichte mit einem freundlichen Lächeln. Und tatsächlich gibt es hoffnungsvolle Elemente darin: Etwa die, dass er in der Klinik seine Abschlussarbeit fertig schreiben konnte. Und damit sein Studium abschließen. Er bezieht auch Erkenntnisgewinn und Erfahrung aus dieser „schweren“ Zeit für seine beruflichen Pläne. Er hat sich auch in seiner Abschlussarbeit mit Achtsamkeit beschäftigt. Und sich innerlich doch verausgabt. Ist schwer erkrankt. Und nimmt nun das Leben ganz neu und von vorn.
Ubuntu: Hoffnung auf südafrikanisch

Mungi Ngomane, die Enkelin des Friedensnobelpreisträgers Desmond Tutu, hat ein Buch über „Ubuntu“ geschrieben (auf deutsch erschienen: München 2019). In 14 Lektionen entfaltet sie diese südafrikanische Philosophie von einem Leben in Verbundenheit. Die Lektion 7 überschreibt sie mit: „Sei lieber hoffnungsvoll als optimistisch“. In Südafrika konnte man lernen (und kann es noch), wie ein Leben in Hoffnung wider alle Angst, Unterdrückung und gefühlte Hoffnungslosigkeit geht:
„Mein Großvater hatte Hoffnung, auch während der schlimmsten Kämpfe gegen die Apartheid. Wenn Menschen in Abgründe blicken, verlässt sie gern ihr Optimismus, während Hoffnung ein hell schimmerndes Licht ist, das uns auch in großer Not weitermachen lässt“ (ebd. S. 120).
Dabei geht es nicht um blauäugige Naivität oder ein einfach durch: „Ubuntu erkennt an, dass das Leben nicht immer leicht ist. Es orientiert sich vielmehr an der Realität und vermittelt, dass wir auch wenn wir uns in einer leidvollen, dunklen Lebensphase befinden, immer Mensch bleiben und es verdienen Licht zu sehen. Egal, wer wir sind“ (ebd.). Und weiter:
Wenn wir nach Inspiration suchen und anderen unser Herz öffnen, sind unsere Chancen größer, das Licht zu sehen.
Mungi Ngomane
Das gefällt mir: „Nach Inspiration suchen und anderen unser Herz öffnen“ als Formel für eine Haltung der Hoffnung. Mungi Ngomane beschreibt diese Haltung der Hoffnung an drei Beispielen.
Wille und Glaube für Frieden in Nordirland
Da ist der Dauerkonflikt in Nordirland. Aus erster Hand wurde ihr erzählt, „dass während des Friedensprozesses in Nordirland der damalige Premierminister Tony Blair an seinem ‚absolut unerschütterlichen Glauben‘ festgehalten habe, dass der Konflikt gelöst werden könne und müsse. Seit Beginn seiner Amtszeit im Mai 1997 setzte Blair eine seiner Prioritäten auf die friedliche Lösung des Nordirlandkonflikts. Zweifelsohne spielte seine Hoffnung eine große Rolle dabei, dass die Bemühungen letztlich durch das Karfreitagsabkommen von Erfolg gekrönt wurden.“ (ebd. S. 121). Blair scheint mir hier ein Beispiel an unbedingten Willen (Priorität) und festem Glauben gegeben zu haben, die seine Hoffnung gespeist haben. Und schließlich Frieden erwirkt haben.
Nelson Mandela: aus dem Gefängnis zum Staatspräsidenten
Das zweite Beispiel ist direkt aus der südafrikanischen Geschichte genommen: „In der schlimmsten Not ist Hoffnung manchmal alles, was bleibt, und manchmal entscheidet sie zwischen Leben und Tod. Nelson Mandela verbrachte 27 Jahre seines Lebens als politischer Gefangener unter schrecklichen Bedingungen im Gefängnis von Robben Island. Während er im Gefängnis saß, starb seine Mutter, und sein Sohn verunglückte bei einem Autounfall, doch den Bestattungen durfte er nicht beiwohnen. Tag für Tag verbrachte er in einer heruntergekommenen Zelle zu, die kaum größer als vier Quadratmeter war. Nach draußen durfte er nur, um in einem Kalksteinbruch Schwerstarbeit zu verrichten. Er wurde von Wächtern schikaniert und erlitt schwere Augenschäden durch das gleißend helle Licht im Steinbruch. Dennoch gab er nie die Hoffnung auf.“ (ebd. S. 122). Nach dem Ende der Apartheid wurde Mandela aus dem Gefängnis entlassen und sein Volk wählte ihn zum Staatspräsidenten. Noch Barack Obama habe, 2013, nach Mandelas Tod über ihn gesagt: Er habe ihm gezeigt, „wozu Menschen fähig sind, wenn sie sich von ihren Hoffnungen und nicht von ihren Ängsten leiten lassen“ (ebd. S. 123)

30 Jahre unschuldig im Gefängnis
Ein ähnlich eindrucksvolles Beispiel hat Anthony Ray Hinton in Birmingham, Alabama, gegeben. Er sei 1985 wegen mehrerer Morde verhaftet worden. 30 Jahre verbrachte er unschuldig in Einzelhaft im Todestrakt: „Hinton beschrieb das Gefängnis in Alabama als die Hölle auf Erden. Die Zellen waren ratten- und kakerlakenverseucht, die Männer bekamen wenig zu essen und durften ihre Zellen nur für 15 Minuten am Tag verlassen. Vom Ende des Korridors her drangen die Geräusche und Gerüche des Todes zu ihnen, da dort ein Mitgefangener nach dem anderen auf dem elektrischen Stuhl bei lebendigem Leib verbrannt wurde“ (ebd. S. 124f). 2015 sei er entlastet und freigesprochen worden. Kurz nach seiner Entlassung schrieb er in seinen Memoiren:
Verzweiflung war eine Option. Hass war eine Option. Wut war eine Option. Ich hatte immer noch eine Wahl, und dieser Gedanke faszinierte mich… Ich konnte mich entscheiden, ob ich aufgeben oder weitermachen wollte. Hoffnung war eine Option. Und mehr als alles andere war Liebe eine Option.
Anthony Ray Hinton, nach 30 Jahren unschuldiger Einzelhaft im Todestrakt
Was für Worte! Da möchte ich mir ein Beispiel nehmen, wenn eine meiner vergleichsweise harmlosen Ängste und Sorgen wieder einmal anklopft. Hoffnung ist eine Option. Und mehr als alles andere Liebe.
Jede*r hat eine eigene Geschichte (der Angst und) der Hoffnung
Wir müssen keine Tony Blairs, Nelson Mandelas oder Anthony Ray Hintons werden oder sein. Wir dürfen schlicht und einfach unsere eigenen Ängste und Sorgen in den Blick nehmen. Wie Tommy hat jede*r von uns seine und ihre Aufgabe und Lebensgeschichte, und kann sich an einem bestimmten Punkt des Lebens – und immer wieder neu – für die Hoffnung und damit gegen die Angst entscheiden. Jeden Tag können wir aufstehen und uns sagen: Ich entscheide mich für die Hoffnung! In jedem Moment (der Angst oder Sorge) haben wir diese Möglichkeit. Keiner sagt, dass das leicht ist. Aber es ist (auch) eine Frage der Entscheidung. Einer Entscheidung für das Leben. Und wir können uns inspirieren lassen. Zum Beispiel aus solchen Geschichten: Wie diese und so viele andere Menschen sich immer wieder neu für die Hoffnung entschieden haben. In schier auswegloser Situation. Über Jahre und Jahrzehnte hinweg. Was dann ein „Wunder“ genannt wird, ist eine Frage des Glaubens, des Vertrauens, des Willens, der Manifestation. Und das ist auch Training. Und: sein Herz öffnen. Ob es Nelson Mandela ist, Tich Nhat Han oder der Dalai Lama: Immer sah oder sieht man sie mit einem freundlichen, ja lächelnden Gesicht. Wie oft hatten sie Grund, ihr Herz zu verschließen angesichts der Ungerechtigkeit und Grausamkeiten, die sie erleiden mussten. Und sie haben sich doch immer wieder freundlich den Menschen zugewandt mit einem offenen Herzen.
Schick die Hoffnung an die Tür!

Kürzlich ist diese Frage einer Haltung der Hoffnung in unsere dienstägliche Abendmeditation eingeflossen. Zwei Tage danach hat mir eine Teilnehmerin, die selbst ein solches Lied der Hoffnung wider alles Bangen mit ihrem heute zweijährigen Kind singen kann, ein Bild von einem Spruch geschickt, das sie selbst gezeichnet hat: „Wenn die Angst anklopft, schick Hoffnung an die Tür.“ Das Bild will sie sinnvollerweise beim Eingang platzieren: „Dass man es immer im Blick hat“, wie sie schreibt. Ja, hier ist diese Haltung wunderbar auf den Punkt gebracht!
Hoffen: im Herzen offen
Ein weiterer Teilnehmer hat mich nach der Meditation darauf hingewiesen, dass im deutschen Wort ‚Hoffnung / hoffen“ offen steckt. Das finde ich spannend. Auch im englischen „hope“ kann open assoziiert werden kann. Ja, offen bleiben, im Herzen offen: Das ist die Option der Hoffnung. Und vielmehr der Liebe.
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* Name geändert
** MBSR steht für Mindfulness-Based Stress Reduction, deutsch achtsamkeitsbasierte Stressbewältigung und geht auf den US-Amerikaner Jon Kabat-Zinn zurück.
Diese Gedankenfolge ist sehr, sehr gewinnbringend und Hoffnung-stiftend. Danke dafür, sowohl „live“ als auch fürs Nachlesen-Können!
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Danke, liebe Theresia, das freut mich!
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lieber bruder,
danke für diesen berührenden beitrag!
U
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