Dass der Begriff so etwas wie eine Aura hat, hatten wir zuletzt schon festgestellt. Es scheint außerdem, dass das Wort im Fluss ist. Das dahinterstehende Phänomen „Muße“ umfasst eine Jahrtausende alte Geschichte. Allein wenn wir auf die Begriffe im indoeuropäischen Sprachraum schauen. Damit werden wir uns an andere Stelle noch genauer befassen. Für den Moment wollen wir uns mit der Wahrnehmung beschäftigen, dass wir wissen oder spüren, dass es sich um ein altes Wort handelt. Und dass es wieder eintaucht in unsere Sprache. Zaghaft zwar, aber es ist da. Zeigt sich, versprüht Präsenz.

Luxusgut oder alltagsfähig?
Und natürlich ist da die Beobachtung, dass „so etwas wie Muße“ ein besonderer Zustand ist. Etwas, das wir uns gemeinhin selten gönnen. Ein Sahnehäubchen. So etwas wie „Urlaub“. Etwas, das wir uns nur manchmal, vielleicht nur ganz selten erlauben – im Übrigen das Verb, das im schönen deutschen Wort Ur-laub steckt. Nichts für den Alltag also.
Nur wer etwas leistet, darf sich nachher Muße leisten.
Doch warum eigentlich? Die Antwort lässt sich auf eine kurze Formel bringen: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Muße ist, ähnlich wie Urlaub, die Belohnung für vorangehende Mühe bzw. Leistung. Leistungsprinzip also. Wer etwas leistet, darf sich nachher auch etwas leisten. Mühe wird belohnt. Wer sich nicht müht, hat keine Belohnung verdient. Das geht dann häufig so aus: Wenn ich das noch erledigt habe von meiner To-do-Liste, dann gönn ich mir eine Pause. Dann kommt die Mail dazwischen und der Anruf und mir fällt siedend heiß noch etwas anderes ein – und die Pause kommt nie. Und wenn doch, muss ich in der Pause aber sowas von dringend auf die Toilette, unbedingt schnell noch den privaten Anruf erledigen und etwas essen sollte ich auch noch. Muße? Ist nicht dabei. Fällt aus. Wie gestern so auch heute. Und morgen vermutlich auch.
Aus der puren Freude des Augenblicks heraus
So wird das nichts. Soviel ist klar. Wie könnte es anders gehen? Die Lösung ist so simpel wie die eben beschriebene Abwärtsspirale: Einfach den Glaubenssatz umdrehen. Erst die Muße dann die Arbeit. Wer sich die Pause nimmt, die echte Pause wohlgemerkt, also Muße, dem fehlt sie hinterher nicht. Zu tun gibt es immer etwas. Diese Liste geht nie (von selbst) aus. Wir können sie nur unterbrechen. Muße kann das Nicht(s)-Tun vor Beginn „der Arbeit“ sein. Die Form ist dabei nicht entscheidend: Meditation, Yoga, Spazierengehen, aus dem Fenster schauen oder einfach mal zu einer ungewöhnlichen Inspiration greifen – zum Beispiel Scones backen.

Entscheidend ist, dass wir nicht etwas tun, damit es erledigt ist bzw. um damit etwas konkretes zu erreichen. Entscheidend ist, dass wir es aus der puren Freude an diesem Tun oder Sein im Augenblick tun. Meditation oder Yoga kann ein Tun sein, von dem ich weiß, dass es mir gut tut. Mindestens mittelfristig. Wir können auch Meditation üben im Sinne einer Selbstoptimierung. Oder aus Disziplin. Das ist alles nicht verwerflich. Muße aber ist das nicht. Das Plädoyer in diesem Text lautet: Sich Muße schenken. Raum und Zeit für die pure Freude des Augenblicks.
Was möchte ich überhaupt jetzt am liebsten?
Doch weiß ich überhaupt, was ich jetzt am liebsten tun würde – wenn es denn überhaupt ein Tun ist? Tatsächlich ist dieses Wissen, dieses Spüren eine Kompetenz, die im Kanon der Kompetenzen unseres Bildungssystems nicht vorgesehen ist. Was ein Kind noch so selbstverständlich weiß, nämlich was es jetzt in diesem Augenblick am liebsten tut, ist uns so genannten Erwachsenen oft schon verloren gegangen. Es lohnt sich, dieses Wissen wieder aufzuspüren, die Erde, in der ihre Samen verborgen liegen, zu gießen, die zarten Pflänzchen zu kultivieren.

Verbundenheit zum großen Ganzen –
Muße ist im Sinne einer wirklichen Atempause eine Schlüsselkompetenz für ein glückliches Leben. Und es ist noch mehr: Insofern wir in einem Moment des Nichts, des Nicht-Tuns oder auch des mußevollen Tuns (flow) Raum schaffen und selbst ein Raum sind für Inspiration, für Kreativität, ist Muße für mich nichts weniger als ein Moment der Anbindung an das Göttliche. Wer einen Musiker, einen Sportler, einen Autor nach den Stunden, den Momenten der größten Schaffenskraft, der Entstehung ihrer Höchstleistungen, ihrer größten Erfolge oder einfach ihrer schönsten und intensivsten Momente fragt, bekommt immer wieder diese Antwort: Es fühlt sich an, wie wenn etwas durch mich hindurchströmt. Ich bin dann gar nicht mehr i c h im Sinne einer abgeschlossenen, individuellen Persönlichkeit, sondern ich bin wie ein Medium, ein Werkzeug, ein Instrument, aus dem heraus es läuft, schreibt, spielt. Ich sehe darin einen Moment der Verbundenheit. Des Eingebundenseins in etwas, das mich übersteigt. Des großen Ganzen.
– und mit sich selbst

Wir erleben in diesen Zeiten viel Trennendes. Über die Kontaktbeschränkungen, Abstandsgebote und Masken hinaus die Ent-zweiung durch unterschiedliche Positionen. Und das auch in unserem Inneren: Was glaube ich überhaupt? Was ist für mich plausibel? Was stimmt für mich? Für viele entstehen durch Home-Office und Ähnlichem neue Möglichkeiten, die Struktur des Alltags zu verändern. Es ist Zeit, sich zu verbinden. Mit sich selbst. Und mit dem, was uns übersteigt. Muße ist ein Weg. Sie kann uns förmlich anspringen. Durch ein Bild. Eines das irgendwo in der Wohnung hängt oder eines, das ganz plötzlich im Inneren aufsteigt. Durch einen Geruch oder ein Geräusch. Wir können uns einem Moment lang diesem Bild, diesem Geruch, diesem Geräusch hingeben. Ein Wink des Glücks oder ein Wegweiser aus dem Universum, ein göttlicher Fingerzeig. Ein Moment nur, der uns eine Perle des Tages werden kann. Jedes Tages. Muße ist durchaus alltagsfähig. Braucht kein Luxusgut zu sein. Wenn wir wollen. Und offen sind mit unseren Sinnen und im Herzen. Dann entdecken wir: Muße bringt uns in unsere Kraft. Im Alltag. Denn: Muße lauert überall.
Lieber Christian. ..herzlichen Dank für deine MuseGedanken. …
Lg silvia
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