Essigbrauen als Passion
„Ja, da siacht ma ja nur d´Fiaß“. In der charmanten Mundart des Pongaus tönt es von unterhalb unseres Balkons herauf, wo Christian und ich mit einer Tasse Kaffee den Morgen begrüßen. Unsere Füße ruhen in Urlaubsmanier auf der Balkonbrüstung, eingepackt in dicke Socken, da die Morgenstunden im Pongau schon herbstlich frisch daherkommen. Die Stimme gehört zu unserem Nachbarn, der unermüdlich mit einer Schubkarre das reife Streuobst von den umliegenden Wiesen und Bauernhöfen aufsammelt und in seine Garage befördert.
Wir haben uns für eine Auszeit den Bergort Goldegg ausgesucht. Eine Oase, die uns mit einem kleinen Holzhäuschen nicht nur eine erholsame Bleibe, sondern auch ein großartiges Panorama in die Salzburger Bergwelt beschert. Und vor allem: nette Nachbarn. Wir merken schnell, dass die Einheimischen hier gerne leben, sich wohlfühlen in ihrer Haut und eins mit der Bergwelt. Auch unser Nachbar ist so jemand. Mich berührt, wie er das Obst auf der Wiese einsammelt: wertschätzend, liebevoll, fast andächtig.
Bei der nächsten gefüllten Schubkarre spricht Christian ihn an. Er stellt sich als Peter vor und es entspinnt sich sofort ein lebendiges Gespräch über die Region und ihre Menschen – allen voran Erwin Thoma. Dieser hat uns im Dokumentarfilm „But Beautiful“ als Förster und Visionär schon lange begeistert. Er baut seit 30 Jahren gesunde Holzhäuser und ist in Goldegg zu Hause. Im Laufe der Tage setzen sich die Gespräche fort und wir sprechen neben Holzhäusern, Natur und Goldegger Besonderheiten, wahrlich über Gott und die Welt.

Am letzten Abend kommen wir beim Spazierengehen an der offenen Garage von Peter vorbei. Was uns bis dahin noch verborgen geblieben war: Peters große Leidenschaft: Das Essigbrauen. Fast bescheiden winkt er uns in seine Garage hinein. In großen Lettern ist an der Wand ein Schriftzug aufgemalt: „Follow your heart. Everyday in your life.“ Peter erzählt uns von seinen Eichenfässern, Lieblingsobstsorten und dem Verarbeitungsprozess der Früchte zu hochwertigem Essig. Ohne weitere Zusätze kommen seine Produkte aus. Dafür haben sie vor allem Zeit, Geduld und Gespür als wichtige Beigabe. Begonnen hat seine Passion damit, dass er sich vor vielen Jahren der alten Streuobstsorten annahm, die mehrheitlich auf den umliegenden Wiesen verfaulten. Im Rahmen des Obst- und Gartenbauvereins initiierte er ein Streuobstprojekt, dessen Ziel der Erhalt der landwirtschaftlichen Obstgärten rund um die Häuser und Bauernhöfe in der Region war.

Aus dem Streuobstprojekt ist mittlerweile eine eigene Essigmanufaktur hervorgegangen, die Peter Rathgebs Passion zum Obstbau und das bereits vom Großvater weitergegebene Fachwissen an die Oberfläche bringt. Viele alte Obstorten die rar geworden sind, kommen bei ihm in die Flasche. Zum Beispiel die Speckbirne, deren Frucht einen hervorragenden Essig abgibt. Peter hat keine Homepage, keinen Online-Shop. Er vertreibt seine Erzeugnisse in den Lebensmittelmärkten der Umgebung, beliefert einheimische Restaurants oder verwendet sie als Bezahlung bei den Bauern für die Früchte. Ganz selbstverständlich deutet er abschließend auf den Schriftzug an der Wand. Das ist für ihn das Wichtigste: dem Herzen folgen, jeden Tag und in seinem alltäglichen Tun. Das können wir spüren: seine Liebe zum Herstellen von Essig, seine Wertschätzung den Früchten und der Natur gegenüber, sein aufrichtiges Interesse an den Menschen in seiner Umgebung.

Zum Abschied schenkt er uns eine Flasche seines Birnenessigs und wir können nicht widerstehen, für unsere Lieben daheim noch weitere Sorten zu erstehen. Beschenkt sind wir auch im Herzen. Durch diese warmherzige Begegnung, dieses Beispiel von Peter Rathgebs Lebensweg, der in seiner Verbindung zu Natur und Mensch fest verwurzelt ist. Diese Erfüllung, die er im Aufsammeln von gereiftem Obst verspürt und die Zufriedenheit, wenn er gereiften Essig in eine Glasflasche füllt. Auch wir können diese Zufriedenheit noch spüren: beim Abendessen und dem wohlschmeckenden Essig im Salat.