Das grüne Herz Italiens zittert. Es bebt

Südlich der Toskana und nördlich der Abbruzzen befindet sich die Mitte Italiens. Das gilt nicht nur geographisch. Umbrien beschreibt sich selbst gerne als il cuore verde d’Italia, das grüne Herz Italiens. Wäre das nicht schon genug, setzt Umbrien noch eines drauf: Viele halten Umbrien als Heimat von Franz von Assisi und Benedikt von Nursia für die spirituelle Seele Italiens – vielleicht sogar Europas: Selbst heute gibt es nirgendwo eine solche Dichte an „Retreats“, also Auszeiten spiritueller Natur, von verschiedensten „Anbietern“ (auch z. B. aus dem Bereich Yoga) als in Umbrien.

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Endloses Grün an den Hängen des Apennin

Umbrien: Das grüne Herz Italiens

Wer sich wie wir zuletzt von Spoleto zu Fuß über den Monte Fionchi nach Ferentillo aufmacht und von dort nach Pollino, Poggio Bustone und Rieti weiter wandert, der weiß warum: Alle Arten von Grün schimmern und leuchten aus den Steineichen- und Buchen-Wäldern an den Flanken des Apennino. Von Menschen nahezu völlig leer wandert der Pilger tagelang in einer im wahrsten Sinne fantastischen Landschaft voll von Jahrhunderte alten Bäumen und sich völlig frei bewegenden Pferden und Kuhherden.

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Der Dom der Bischofsstadt Spoleto

Nursia, die Wiege des abendländischen Mönchtums

Nach unserer Pilger-Tour wollten wir längst weiter Richtung Kampanien reisen. Doch wir können uns nicht recht loslösen aus Umbrien. Von Spoleto aus gibt es eine intensive Verbindung zur ebenso kleinen wie berühmten Pilger-Stadt Norcia – historisch auch als Nursia bekannt. Nachdem wir über die Verbundenheit des Heiligen Franziskus zu Nursia gelesen hatten und davon, dass er selbst schon Anfang des 13. Jahrhunderts als Pilger von dort in den Orient aufgebrochen ist, zieht es auch uns dorthin. Wir fahren also am späten Nachmittag noch nach Norcia und wollen eine Nacht dort bleiben. Es ist gewittrig, immer wieder donnert es, regnet kurz und einige Nebelschwaden ziehen durch die engen Seitentäler. Wir kommen schließlich an in den Sibellinischen Bergen und suchen uns einen Platz für unseren VW-Bus, wo wir eine Nacht stehen dürfen. Schon bei der Ankunft wird sichtbar, wie sehr die Stadt bis heute an den Folgen des schweren Erdbebens vom Oktober 2016 leidet: Überall sind Gebäude eingerüstet und außerhalb des das Städtchen umgebenden historischen Mauerrings befinden sich überall Container für die Einwohner Norcias und auch für eine Vielzahl der Restaurants und Geschäfte.

 

Norcia: im Mark erschüttert

Die alte Bahnhofstraße – es gab bis vor wenigen Jahren eine Bahnverbindung von Spoleto nach Norcia – wurde zur mit Holzhütten gesäumten Einkaufsstraße. Bei dem Erdbeben von vor knapp drei Jahren wurden viele Gebäude so stark zerstört, dass sie bis heute nicht wieder aufgebaut bzw. gesichert werden konnten, um darin zu leben bzw. ein Restaurant oder Geschäft zu betreiben. Von der Basilika des berühmtesten Sohnes der Stadt, dem Heiligen Benedikt – er ist nicht nur der Gründer des Benediktinerordens sondern gilt als Begründer des abendländischen Mönchtums schlechthin und wurde deshalb zum „Patron Europas“ ausgerufen – steht nur noch die Hauptfassade. Diese eine einzige Wand ist aufwändig gesichert, damit nicht auch noch sie etwa durch die bis heute andauernden kleineren Nachbeben in sich zusammenfällt. Völlig unversehrt geblieben ist dagegen die Statue des Hl. Benedikt mitten auf dem Platz vor der Basilika. Menschen sind durch das starke Erdbeben übrigens wie durch ein Wunder nicht ums Leben gekommen, wenngleich fast 30.000 ihre Häuser verloren haben bzw. verlassen mussten.

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Die einzig von der Basilika verbliebene Fassade (links) und die gänzlich verschont gebliebene Statue des Hl. Benedikt (rechts)

 

Verbundenheit im Herzen

Auch wenn unser Budget knapp ist, wissen wir sofort: Hier können wir nicht auch noch selbst unsere Cena kochen, hier müssen wir in ein Restaurant Abendessen gehen. Die über die Jahrhunderte von Pilgern verwöhnten, seit dem Erdbeben aber so allein gelassenen Menschen hier sind froh um jeden Euro. So gehen wir zu Fuß die paar Schritte durch eines der Stadttore hinein in die Altstadt und kommen schnell auf den historischen Platz mit (den Resten) der Basilika. Wir sehen, dass hier heute Abend ein Konzert stattfindet. Schon ist eine offenbar regionale Rockband beim Soundcheck und beschallt den Platz ordentlich. Vielleicht kommen wir später noch vorbei. Wir suchen und finden wir ein nettes kleines Restaurant in der Altstadt, das offenbar liebevoll wieder hergerichtet wurde. Ein großer Tisch ist reserviert und überhaupt bekommen wir den einzigen freien bzw. nicht reservierten Tisch für zwei. Schnell stellt sich heraus, dass der große Tisch für die Band ist, die nach dem Sound-Check und vor dem Konzert noch gestärkt werden will. Die Wirtsfamilie kümmert sich nicht nur liebevoll um uns – wir nehmen das Tages-Menü mit hausgemachte Futtucchine Arrabiata als Primo und Salsicchia mit Bohnen und Blaukraut als Secondo. Dazu einen Vino und Acqua Frizzante.

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Erdig, urig, lecker: Spezialitäten aus der berühmten Küche in den sibellinischen Bergen

Die Mama, ihre Söhne und dem Papa-Koch und der Nonna gehen auch liebevoll miteinander um. Und dann kommt eine Freundin mit ihrem Partner ins Lokal. Überschwänglich begrüßen sie sich. Sie erzählt uns, dass es sich hier um jemand ganz besonderes handele. Ob es ihre Sorella sei, frage ich. No,no… Aber offenbar eine „sorella al cuore“!? Da nicken sie beide. Das gefällt ihnen. Seit dem Kindergarten kennen sie sich. In Norcia hält man zusammen. Die Bande der Familien und Freunde sind stark. – Als wir über den Platz zurück zum Auto schlendern, ist das Konzert in vollem Gange. Das gewittrige Wetter hat der Band leider kein „volles Haus“ beschert. Aber das tut ihrer Leidenschaft keinen Abbruch.

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Ein Rock-Konzert wie ein Lebenszeichen der stolzen und doch erschütterten Einwohner Norcias

Wir bleiben eine halbe Stunde und rocken mit. Sichtbar wird, dass sich hier so gut wie alle kennen. Es scheint, dass sich die ganze Stadtbevölkerung hier versammelt hat. Viele sind um die 60 Jahre und älter. Manchen ist es zu laut und sie hält es nicht allzu lange. Andere beschwichtigen, sie sollen doch noch ein wenig da bleiben. Gegen halb zwölf machen auch wir uns dann auf. Um Mitternacht legen wir uns in unseren VW-Bus schlafen.

Das grüne Herz bebt

Zwei Stunden später, es ist exakt 2:02 Uhr, wird unser Bus dermaßen durchgerüttelt, dass wir beide aufwachen und uns gegenseitig fragen: Was war das?? Es ist offenbar, dass kein LKW an uns vorbeigedonnert ist, denn den würden wir noch hören. Draußen ist soweit alles ruhig. Aber wir haben nicht geträumt, dass unter uns die Erde gewackelt hat. Wir sind verstört und eine Zeit lang wie in einer Schockstarre. Dann merken wir, dass draußen mehr und mehr Autos unterwegs sind. Um viertel nach Zwei in der Nacht. Dann fahren die Carabinieri vorbei und auch die Feuerwehr. Wir lösen uns aus unserer Schockstarre, ziehen uns an und gehen nach draußen. Nicki versucht über das Handy zu checken, was los ist. Das Wort „Erdbeben“ haben wir noch nicht in den Mund genommen, aber es ist uns beiden klar, dass das das Naheliegendste ist. Draußen finden wir niemanden, der zu Fuß unterwegs ist und den wir fragen könnten. Da unser Auto an einer Böschung steht, fühlen wir uns nicht mehr sicher und verlegen es an einen anderen Platz: „weit genug weg von Gebäuden und der Stadtmauer“ postuliert Nicki. Irgendwo hin zu fahren, ergibt für den Moment keinen Sinn. Wir wüssten nicht, wohin es sich jetzt am ehesten „in Sicherheit“ zu begeben gäbe. Wir finden einen Parkplatz – „weit genug entfernt von Gebäuden und der Stadtmauer“. Nicki bleibt den Rest der Nacht über sitzend vorne auf dem Beifahrersitz. Sie findet nicht mehr genügend Ruhe, sich nochmal schlafen zu legen. Ich lege mich noch hin bis zum Tagesanbruch. Einer sollte wenigstens in der Früh fahrbereit sein, wenn wir vielleicht mehr wissen. Tatsächlich zeichnet sich frühmorgens ab, was wir vermutet hatten. Wie heute üblich verifiziert das Internet ein Beben von 4.0, 4.1 oder 4.6 auf der Richterskala. Das schwerste Beben seit jenem Oktobertag 2016 …

 

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Die Natur am Apennin ist wie das Leben: sanft, zärtlich, wild, schön und unberechenbar

Bleiben oder fliehen?

Wir müssen uns neu sortieren und wollen zurück Richtung Spoleto fahren. Nicki kann für den Moment hier nicht bleiben. Ich würde gern noch einmal zurück in die Altstadt. Ein letzter Kaffee noch in der Bar direkt hier am Parkplatz und quasi direkt in der Stadtmauer ist unser Kompromiss. 

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Voll von uralten Buchen: der Wald im grünen Herzen Italiens

Die Frau in der Bar ist aufgewühlt. Doch es ist weniger Angst, die aus ihr spricht sondern eher Gereiztheit, Ärger, vielleicht sogar Wut. Ein brummiger Signore kommt herein und murmelt irgendwas. Er nimmt heute keinen Café sondern einen Cognac. Offenbar hat er sie gefragt, was das heute Nacht war. Sie redet etwas von „4.1 oder 4.6“. Es ist nur verständlich, dass die Menschen hier endlich wieder wirklich Ruhe haben wollen und zu ihrem alten Leben zurückkehren wollen. Doch es ist offensichtlich, dass die Erde nicht mehr ganz zur Ruhe kommt seit drei Jahren. Und sie müssen mit der Fragilität leben lernen. Wir dagegen machen uns davon. Wir sind nicht von hier. Wir haben die Möglichkeit. Für die, die hier verwurzelt sind, ist das so einfach nicht. Und wer hier in diesem wunderschönen Flecken Erde mit der Jahrhunderte alten Geschichte der Pilger-Stadt Norcia verbunden ist: Wem ist es zu verdenken, dass er hier eben nicht weg will sondern bleiben? Restare. Da sein und in Ruhe sein. Bleibt ihnen zu wünschen, dass sich das Herz Italiens wieder erholt. Und wir? Für jetzt gehen wir. Aber wir kommen wieder!

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