
Wir stehen am La Verna, dem heiligen Berg. Ihn nehmen viele Pilger zum Ausgangspunkt ihres Pilgerweges. Auch wir wollen unsere Tour im September mit einer Gruppe hier beginnen und sind zu Vorbereitungen vor Ort. Wir betreten das franziskanische Santuario und sind tief berührt von diesem Berg und diesem zutiefst spirituellen Ort. Man kann fragen, warum wir die geplante Pilgertour quasi vom Ende her beginnen wollen; dort nämlich, wo der heilige Franz, wie man sagt, die Wundmale (Stigmata) empfangen hat und damit die Nachfolge (imitatio) seines Herrn und Meisters seinen spirituellen Höhepunkt erfahren hat. Der Ort auch, von dem er aufgebrochen ist, um sich seinem „Bruder“ Tod zu überlassen und zu sterben: Es ist gut, wenn wir als Pilger, noch bevor wir aufbrechen, u n s e r e n Schmerz anschauen, unsere Verwundungen, unser Leid, unser „duka“, wie die Buddhisten sagen – und manche in die westliche Welt auch als „Stress“ übersetzen. Wenn wir also hier unseren ganzen emotionalen, gedanklichen und körperlichen „Stress“ ablegen. Ja, wir können hier, noch bevor wir wirklich aufbrechen, in uns hineinschauen wie in einen Spiegel. Und schon ein erstes Mal die wesentliche Übung der Achtsamkeit durchführen: Wahrnehmen, was ist. Und ohne es zu beurteilen. Wir werfen einen Blick auf die Verwundungen, die wir mitgebracht haben und beginnen bewusst unsere Pilgerreise hier am heiligen Berg der Wundmale.
Zur Besinnung kommen. Nach innen und von außen

So sind wir ein erstes Mal mit uns selbst in Berührung, und damit, wenn man so will, „zur Besinnung gekommen“. Mit dem Wort Besinnung assoziieren wir in der Regel den Blick nach innen, sozusagen in uns hinein. Vielleicht fällt uns sogleich ein weiterer Begriff ein: Meditation. Tatsächlich muss Meditieren nicht unbedingt ein stilles Sitzen sein. Auch das Gehen, zumal das lange Gehen beim Pilgern eröffnet viele Gelegenheiten und Raum für den Blick nach innen, für ein innerliches Stille-Werden. Das Gehen draußen in der Natur – zumal in der Abgeschiedenheit der umbrischen Hügellandschaft, lange Weg-Zeiten ohne auf jemanden zu treffen, keine Stadt, kein Dorf, kaum ein Haus, das wir passieren, da lässt es sich vortrefflich zu sich selbst kommen, vielleicht sogar mehr, als es uns gerade lieb ist. Doch das „Zur-Besinnung-Kommen“ geht nicht nur über den Blick nach innen. Jon Kabat-Zinn, einer der großen Achtsamkeits- und Weisheitslehrer unserer Zeit, spricht in diesem Zusammenhang von der „Weisheit der Sinne“ und vom „Zauber des Sinnlichen“. Auch die Außenwelt, erschlossen über unsere Sinne lässt uns zur Besinnung kommen: Nicht nur was wir sehen, verzaubert uns. Die Palette unserer Sinne lässt uns eintauchen in, wie Jon Kabat-Zinn das so wunderbar in Worte setzt: Geräuschlandschaften, Berührungslandschaften, Geruchslandschaften und Geschmackslandschaften.
Eine Landschaft in Gelb. Der Zauber der Ginsterblüte
Wenn wir nämlich den heiligen Berg hinter uns lassen und uns in die weite Hügelwelt Richtung Caprese Michelangelo begeben, offenbart sich uns ein unerwartetes Schauspiel: Wir sind mitten in die Ginsterblüte hineingelangt mit unserer Vorbereitungstour. Die kräftige gelbe Farbe und der süßliche Duft des italienischen Ginsters hinterlassen starke Eindrücke: Über das Sehen und Riechen gelangen wir in die Gegenwart des Außen.

Und dieses Erlebnis hilft uns, unseren Schmerz tatsächlich auf dem heiligen Berg ruhen zu lassen. Wir wissen, dass Gesundwerden, Heilung in der Regel von innen nach außen geschieht. Und dürfen doch nicht vergessen, dass uns unsere Sinne auf dem umgekehrten Weg unterstützen wollen: Wenn wir unsere Sinne öffnen und das Schöne und Wunder-bare um uns herum wahrnehmen, wenn wir das fantastische Gelb des Ginsters sehen, den Kuckuck und die Grillen hören, die dunkle Erde (terra umbra) riechen und den darin verborgenen Trüffel erahnen, die Früchte am Wegesrand schmecken und die Hitze und den Wind auf unserer Haut spüren, dann kommt das Glück und das Heilsame von außen in unser Inneres.