Abends, kurz vor Acht, und jetzt bin ich wieder so weit: Verflixt, wieder nicht zu dem gekommen, was ich mir vorgenommen hatte. Eigentlich gar nichts „dertan“, wie es im Tirolerischen heißt, nichts von Bedeutung geschafft, erledigt. Nichts, was aus meiner To-do-Liste abzuhaken wäre. Es sind zwar Ferien, aber heute hätte ich mir dennoch schon einiges vorgenommen. Und dann schon ein ungeplantes Krisengespräch nach dem Frühstück, und ein zweites nach dem Mittagessen. Dann noch ein unerwarteter Besuch am Abend und eine Erledigung, die nicht auf dem heutigen Plan stand. Und noch nicht einmal meditiert.…
Die wesentlichen Dinge
„Ich wünsche dir Zeit für die wesentlichen Dinge des Lebens“, schrieb mir eine Bekannte. Ein schöner, und herausfordernder Wunsch. Im Westen nichts Neues, im Dazwischen nichts Wesentliches passiert… wirklich nicht?
Der Erledigungsmodus ist eine Falle. Das Gespenst der Zeit sitzt mir im Genick. Immer klarer fällt mir auf, wie gefangen ich im Gefängnis der „linearen Zeit“ bin. Die lineare Zeit ist das, was wir für so selbstverständlich halten. Als würden wir völlig offensichtlich einem Zeitverlauf folgen, der unsere Jahre misst, Wochen, Tage und Stunden.
Gefangen in der „linearen Zeit“
Natürlich haben wir eine Vergangenheit. Und eine Zukunft. Das ist nicht mehr ganz so selbstverständlich, schon gar nicht in seiner Länge. Aber doch planen und sorgen wir vor(aus). Und machen uns viele viele Gedanken.Eine der entscheidenden Erkenntnisse für ein achtsames Leben ist so banal und steht doch so radikal quer zu der Art und Weise, wie wir unseren Alltag im Erledigungsmodus wie auf einer Zeitleiste durchleben. Es gibt nur das Hier und Jetzt! Der gegenwärtige Moment ist die einzig greifbare, reale, wirk-liche Zeit. Im Erledigungsmodus dagegen tun wir die Dinge auf einen vorgestellten Zeit-punkt hin, wo wir dann Zeit haben würden „für die wesentlichen Dinge des Lebens“. Dort würde das Leben auf uns warten: Erst wenn wir alles erledigt haben, dürfen wir durchatmen, loslassen und leben. Wir haken eins nach dem anderen ab, als ob es darum ginge, auf dem schnellsten Weg von hier noch dort zu kommen. Doch wo sind wir dazwischen?
Wo sind wir dazwischen?
Thich Nhat Hanh schreibt: „Häufig gehen wir nur aus einem Grund: Wir wollen von einem Ort zum anderen gelangen. Doch wo sind wir dazwischen?“ [Einfach gehen, S. 8]
Was Thich Nhat Hanh hier zum achtsamen Gehen schreibt, lässt sich also auch auf den Erledigungsmodus im Alltag anwenden.
Ich sitze im Bus, spät dran auf dem Weg zum Bahnhof, zum Zug, den ich nicht verpassen darf. Und dann steigen viel zu viele Leute ein, die den Busfahrer beschäftigen und einbremsen. Ich schaue auf die Uhr, hadere mit den Leuten, dem Busfahrer, dem Schicksal und mit mir selbst, dass ich so spät aufgebrochen sind. Und doch kann ich kein kleines Bisschen daran ändern, kann die Zeit nicht bremsen, indem ich immer wieder auf die Uhr schaue. Ich bin körperlich und mental angespannt, beschäftige mich per Gedankenspirale mit meiner Entscheidung, so spät aufzubrechen, und mit der Sorge darum, was sein wird, wenn ich den Zug verpasse. Druck, Wut, Sorge, Stress. Welch ein gewaltiger Energieverlust!
Vor dem Eigentlichen
Ich habe noch eine interessante Variante entdeckt: Ich habe gewisse Dinge vor, möchte aber dann „vorher noch schnell dies und das erledigen“, bevor ich dann das „Eigentliche“ mache – sei es etwas von meiner To-do-Liste, sei es etwas, was ich für mich selbst tun möchte, sei es schreiben oder Meditieren gehen zu wollen. Auch eine Falle der linearen Zeit: Ich mache die „schnellen Erledigungen“ im Erledigungsmodus, oder „im Schlaf“ wie Anthony de Mello es nennen würde, noch dazu im Zeitdruck, wenn das „Eigentliche“ ja erst noch kommt und möglichst schnell kommen soll. Das „Eigentliche“ kommt dann vielleicht erst sehr spät, oder gar nicht mehr. Und ich jage einem Phantom hinterher, das auch ein tiefer Wunsch, „eine für mich wesentliche“ Angelegenheit sein kann, dessen Qualität leidet, weil es wach gerufen und sofort wieder suspendiert wurde und dann letztlich auch dann zu wenig „Energie der Achtsamkeit“ zurückgibt, selbst wenn es noch dazu kommt, dass ich mich ihm widmen kann. Aber diese Suspendierung und Phantomisierung zeigt natürlich schon seine destruktive Wirkung auf die Qualität dessen, was ich inzwischen tue.
Ich schaffe ein künstliches „Dazwischen“
Wenn ich auf diese Weise im Erledigungsmodus bin, schaffe ich ein künstliches „Dazwischen“. Anstatt der Essenz des Zen zu folgen, einfach nur eins nach dem anderen zu tun, setze ich mir ein (anderes) Ziel, und packe noch was auf den Weg dazwischen. Doch wo bin ich „dazwischen“? Gefangen in einer Vorstellung von einem Punkt auf der Zeitlinie in der Zukunft, entwerte ich den ganzen Weg dazwischen. Und ich „erledige“ das dazwischen und das in der Zukunft zu erledingende gleich auch noch. Ich tu die Dinge nur, um sie zu erledigen, um sie wegzuschaffen. Schade eigentlich.
Dieses Ent-werten ist ein mächtiges Muster in meinem Leben und eine Folge, im Gefängnis der linearen Zeit zu leben. Ich ent-werte im Nachhinein das Gespräch hier und dort, das mir „dazwischen gekommen ist“ (wieder: wo war ich „dazwischen“?), vielleicht sogar den Besuch, das Gespräch, das Mich-Einlassen, die Zuwendung, die geschenkte, unverzweckte Zeit, also selbst diese Momente, in denen ich tatsächlich frei war, jenseits der Gefängnismauern der linearen Zeit. Das ist buchstäblich ver-rückt.
Abends um Acht
Abends um Acht. Ein Tag geht zu Ende. Feierabend für verrückt machende Gedanken.
Zeit, 5 gerade sein zu lassen, anzukommen im Hier und Jetzt. Ob mit oder ohne Meditation. Dieser Atemzug, dieser Schritt, dieser Augenblick – die wesentlichen Dinge des Lebens.
Text: Steve Heitzer