„Boanduran. Muaschmolgugle“

Achtsam unterwegs sein in Gesellschaft eines Schwabenpfeils

„Ah, da kommen die Schwaben wieder“, meint eine Dame, die wie wir in „Il Sasso“, die erste Rast des Tages, treffen. Wir sind auf dem Weg von Citta di Castello ins pittoreske Pietralunga und haben angesichts der Länge der heutigen Tagesetappe erst recht wenige Kilometer geschafft – dabei ist es schon Mittag und die Sonne heute ziemlich gnadenlos an ihrer Arbeit. Il Sasso, das sind ein paar Häuser und ein großer Picknick- und Badeplatz am kaskadenartig ins Tal hinunterfallendem Bach (Sasso) und, nicht zu vergessen, einem kleinen Restaurant mit hervorragenden selbst gebackenen Kuchen und leckeren deftigen Köstlichkeiten.

Il Sasso: Frühstücken oder ein Bad am Fluss nehmen?

Ach, wie schön wäre es, hier – wie etliche Einheimische, die sich hier schon am Ufer des Sasso versammelt haben, ein Bad zu nehmen! Da wir aber bisher keine rechte Gelegenheit hatten und der Hunger stärker ist – bzw. Koffein- und Zuckerspiegel gleichermaßen fordernd auftreten, entscheiden wir uns für ein Frühstück in der Bar.

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Das andere Pilgerfrühstück

Während wir also um 12 Uhr bei Cappuccino und halbgefrorener Himbeertorte sitzen, kommen drei Männer mittleren Alters um die Ecke. Sie sind mit Stöcken unterwegs und zumindest einer aus der Gruppe verbreitet jede Menge Power. Er redet auf die beiden Frauen ein – sie sind sich offenbar schon am Vortag begegnet – und schwärmt vor allem von seiner App, mit der er die ganze Region kartographiert offline auf dem Handy hat. Zweifellos ein komfortables tool hier auf den oft schlecht markierten Wegen. Wir genießen derweil unseren letzten Bissen und brechen mit dem Geschmack leckeren italienischen Kaffees auf der Zunge auf. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit leider ohne, in den Sasso eingetaucht zu sein; nicht einmal unsere Füße haben wir für ein kurzes Bad aus den Schuhen gelassen…

Männergruppe mit Schwabenpfeil

Wir biegen nach wenigen Metern von der Straße rechts ab und tauchen wieder in die betörend schöne umbrische Hügellandschaft ein. Bald nehmen wir eine mächtige Abteikirche auf einem Hügel vor uns wahr. Die Pieve di‘ Saddi kann es noch nicht sein, unser zur heutigen Hauptrast erkorener Meilenstein, der erst nach etwa zwei Drittel des Weges auf dem Plan steht.

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Eine dieser mächtigen verlassenen Abteikirchen, die so plötzlich in der Landschaft auftauchen.

Noch während wir staunend hinaufschauen, hören wir Stöcke hinter uns herkommen: Das Männertrio ist uns auf den Fersen mit Christoph, dem „Schwabenpfeil“ an der Spitze. Als er zu uns aufschließt, kommen nun auch wir in den Genuss seiner nicht nur körperlichen Power sondern auch seiner dialektalen Wortgewalt. Zunächst einmal stellt sich heraus, dass sie keine Schwaben sondern Badener sind und eigentlich zu viert. Der vierte Mann allerdings ist bereits fußlahm und steuert nun dauerhaft das Begleitfahrzeug, das sie mitführen. Es ist zugegeben nicht ganz leicht ihm zu folgen. Weder seinen Schritten noch seinen Worten. Er laufe täglich seine zehn Kilometer und mache auch sonst sehr viel Sport. Auf einem „Pilgerweg“ sei er zum ersten Mal. Auch wenn wir selbst aus Süddeutschland sind, aber eben aus Bayern und nicht aus dem Südwesten, macht uns sprachlich neben dem Tempo der Wort-Kaskaden auch der Dialekt zu schaffen. Für sein Schritt-Tempo sind neben seiner Kondition auch die Stöcke verantwortlich. Als er sich wundert, dass wir „ohne Stöcke laufen“, vereint sich die Diskrepanz im Schrittempo mit der beim Sprechen: Wovon redet der Mann?

Däkadlon – kenntanet?? Däkadlon – gibtsanet!?

Er „hole“ sich alles bei „Däkadlon“. Da gäbe es ja wirklich alles, was man an Sportbedarf so braucht. Und das zu unschlagbar günstigen Preisen. Wir schaffen es, ihm wenigstens grob zu folgen. Aber „Däkadlon“ hätten wir noch nie gehört. „Däkadlon? Kenntanet?? Däkadlon?? Däkadlon!! Gibtsanet!??“ Selbst als wir ihn buchstabieren lassen, haben wir Mühe, bis wir uns dann doch vorstellen können, wie das ausgeschrieben aussehen könnte: Ok, jetzt: „Decathlon“. Nein, wir kennen es wirklich nicht. So sportlich (wie wir möglicherweise aussehen), sind wir gar nicht. Und, ja, hm, Stöcke… Uns kommt es gar nicht so auf Schnelligkeit an.

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Einen Schwabenpfeil im Nacken.

Wir sind schließlich beim Pilgern. Da ist mehr der Weg das Ziel und nicht, schnellstmöglich von A nach B zu kommen. Ja, das mag schon sein, aber es entlaste auch gewaltig die Gelenke. Das ist wohl wahr. Dennoch: Wir haben gern die Hände frei, und es sei uns auch irgendwie zu laut mit den Stöcken. Hm, … Langsam ist nicht so sein Ding. Weshalb wir darauf verzichten, ihm auch noch das mit der Achtsamkeit zu erläutern. Ihn fasziniere mehr so die Länge der Pilgerstrecke insgesamt. Er sei begeistert von den Ultralangstreckenläufern. Ob wir „boanduran“ gelesen hätten, möchte er wissen. Kurz inne gehalten, bis der Groschen fällt: Ah, „born to run“, nein das Buch (?) kennen wir nicht. Da gäbe es ein ganzes Volk von Menschen, die Hunderte Kilometer laufen usw. „Boanduran – muaschmolgugle!“, so sein Tipp. „Sagenhaft“ sei das, was der da schreibt. Tatsächlich googeln wir eher zum Thema „slow“ denn „fast“. Auch wenn wir es grundsätzlich gern piano halten mit dem Geh-Tempo, merken wir, dass wir in Gesellschaft von Christoph ein gutes Stück des Weges vorangekommen sind. Was angesichts der Länge der heutigen Etappe nicht schadet. Seine beiden Groupies, merken wir, kommen allerdings nicht wirklich hinterher. Christoph, der „Schwabenpfeil“, ist offenbar konditionell seinen Gefährten deutlich überlegen. Und nachdem wir gemeinsam eine kurze Pause machen, damit sie aufschließen können und dann zu zweit weitergehen, schließt Christoph bald wiederum – allein – zu uns auf.

Die Wiese der Heiligen und die Frage, wie es bzw. wer weitergeht

Irgendwann erreichen wir schließlich zu dritt die Pieve di‘ Saddi mit der so genannten „Wiese der Heiligen“.  Wo sich schon im 4. Jahrhundert Christen versammelt haben – sogar Heilige sollen darunter gewesen sein, freuen wir uns heiligmäßig auf die längere Pause. Wir setzen uns in den Schatten, genießen das Brunnenwasser und machen Brotzeit. Nach Christophs Gefährten trudeln auch die beiden Damen ein, die hier übernachten wollen – was nur nach Anmeldung geht, weil der Ort nicht dauerhaft bewirtschaftet ist. Nicki und ich haben uns schon kurz geschlossen, dass wir das letzte Drittel des Weges gerne allein und in unserem Tempo gehen möchten. Als allerdings der vierte Mann des Schwaben-Trupps mit dem Begleitfahrzeug auftaucht, dauert es nicht lange, bis Christophs Frage kommt: Kann ich mit euch weitergehen? Seine Gefährten konnten der Versuchung des Kleinbusses nicht widerstehen und wollten für heute nicht mehr ihn sondern den vierten Mann begleiten. Was in jeder Hinsicht leichter zu bewerkstelligen ist… Und natürlich wollen wir ihn nicht abweisen, haben wir ihn doch längst ins Herz geschlossen. Aber wir machen deutlich, dass wir das zuletzt angeschlagene Tempo nicht weiter gehen wollen und können. Ihm aber durchaus dankbar sind, dass er uns hierher zur Wiese der Heiligen gut gezogen hat, sodass wir insgesamt zu einer guten Zeit auch am Tagesziel ankommen werden.

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Immer wieder bezaubernd schön, die Hügellandschaft Umbriens.

Frisch gestärkt und gut gelaunt brechen also wir drei auf. Irgendwann ist Christoph aber dann doch davongezogen und ward nicht mehr gesehen. Auch in Pietralunga haben wir ihn leider nicht mehr getroffen. Der Schwabenpfeil, der ein Badener war, ist seinen Weg und sein Tempo gegangen. Gut so. Richtig so. Das darf und muss sogar jed*r hier beim Pilgern. Und das gilt auch ganz allgemein für den ganzen Lebensweg.

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